Stephan Rothlin S.J. macht derzeit die Stellvertretung von Pfarrer Reto Müller in Schwyz. Der Lachner gehört dem Jesuitenorden an und weilt seit17 Jahren in China. Er ist unter anderem seit 1999 Professor für Wirtschaftsethik an einer Pekinger Universität, wo er in chinesischer Sprache lehrt. Wir befragten ihn zu seiner Tätigkeit, zum Verhältnis der Chinesen zur Schweiz und zur rasant wachsenden Zahl der Christen im Reich der Mitte.

P. STEPHAN ROTHLIN S.J.
SPRACH FRANZ STEINEGGER

Was macht ein gebürtiger Lachner in China?
Meine Eltern führten eine Möbelfabrik. Dort arbeiteten auch Japaner, die Welt Asiens war somit immer präsent. Als ich acht Jahre alt war, hat ein Steyrer Missionar von China erzählt. Das sprach mich sofort an.

Mit welcher Motivation sind Sie 1998 nach China ausgewandert?
Ich erhielt die Gelegenheit, in einem Programm Amerikanischer Jesuiten- Universitäten mitzumachen. In Kursen lernte ich die chinesische Geschichte kennen, erhielt Einblick in die Sprache und konnte Reisen nach China machen. In diesem Rahmen konnte ich mein eigenes Projekt über die Wirtschaftsethik aufbauen.

Sie sind Professor für Wirtschaftsethik an der Universität für internationalen Handel und Wirtschaft in Peking. Wie kommt es, dass ein katholischer Priester an eine Universität in Chinas Hauptstadt berufen wird?
Ich habe mich nicht als katholischer Priester, sondern als Stephan Rothlin mit einem Doktorat einer Staatsuniversität im Gepäck an der Handelsschule der Renmin-Universität in Peking beworben, «Wirtschaftsethik» zu dozieren. Schon 1999 wollte ich ein Institut für Wirtschaftsethik gründen, doch die Leute rieten mir, ich solle zuwarten. Es sei noch zu früh, Themen wie Korruption oder Arbeitsunfälle in Bergwerken, wo jährlich 7000 Menschen ums Leben kommen, anzusprechen.

Wie kann man sich einen solchen Unibetrieb vorstellen? Volle Hörsäle mit Tausenden von Studenten?
Im klassischen Sinne doziere ich an etwa einem Dutzend verschiedenen Handelsschulen, in Schanghai, Peking, Hongkong, Taipeh. So lerne ich verschiedene Universitäten kennen. Ich halte Vorträge vor 30 bis 70 Studenten. Tausende von Studenten erreiche ich über die Online-Angebote der Unis.

Was unterrichten Sie konkret?
Ich lehre die Studenten beispielsweise, wie man verantwortlich wirtschaftet. Sie müssen einen Businessplan ausarbeiten und dabei vorgegebene ethische Kriterien erfüllen. Es ist wichtig, dass man Ethik nicht einfach als Zuckerguss über Projekte stülpt, sondern sie konkret umsetzt.

Thematisieren Sie auch heisse Eisen wie Korruption oder den Umgang mit Angestellten?
Da ist alles dabei. Man muss die Dinge beim Namen nennen. Das mache ich über Fallbeispiele, denn wenn man zu abstrakt doziert, klinken sich die erfahrenen Geschäftsleute aus. Korruption ist ein Thema, mit dem man in China ständig konfrontiert wird, Schmiergeldzahlungen, Produktesicherheit, Milch- oder Fleischskandale, der Umgang mit den Angestellten, die fristgerechte Auszahlung der Löhne am Ende des Monats – all das wird thematisiert.

Inwieweit spielen christliche Grundwerte hinein?
Ich sehe es als Chance, die katholische Soziallehre konkret zu vermitteln, ohne diese explizit ins Schaufenster zu stellen. Es geht um solidarisches Handeln, ums Prinzip der Subsidiarität – Entscheidungen auf einer tiefen Ebene treffen – die Würde jedes einzelnen Menschen, Ausrichtung aufs Gemeinwohl. Der Zuhörer soll sich die Frage stellen: Wie kann ich profitieren, wenn ich nicht korrupt bin.

Das sind global geltende Standards. Gibt es auch China-spezifische?
Ja. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. In der Schweiz gibt es viele anerkannte Marken wie Nestlé, Swatch oder Victorinox. In China gibt es nur wenige davon. Es ist also für chinesische Unternehmen von Nutzen, wenn man sich an die Standards hält, Vertrauen schafft, um für eine Firma einen Namen aufzubauen. Denn in China kommen immer mehr Bewegungen auf, welche die Rechte der Konsumenten einfordern.

Sie dozieren und schreiben in chinesisch. Die Sprache gilt als schwierig zu erlernen. Wie lange haben Sie gebraucht?
Als ich 1998 nach China kam, beherrschte ich etwas «Überlebenschinesisch». Wichtig ist, zwei bis drei Jahre intensiv im Land zu leben. Nach fünf Jahren überschreitet man eine weitere Schwelle. Vor allem muss man dranbleiben, nicht aufgeben, die Geduld nicht verlieren.

Sie führen ein Beratungsunternehmen in Wirtschaftsethik. Ist das die praktische Umsetzung der Thematik, die Sie an der Universität lehren?
Ja. Seit 2014 habe ich mit meiner Beratungsfirma einen Vertrag mit der Universität für drei Jahre. Wir bereiten gemeinsam Kurse vor. Mit dieser Partnerschaft bin ich gut vernetzt und sie eröffnet mir die Möglichkeit, innerhalb Chinas die Kurse durchzuführen, weil sie staatlich sanktioniert sind. So erreiche ich nicht nur die Privilegierten, sondern die breite Schicht.

Man hört heraus, dass Sie mit diesen Aufgaben ausgelastet sind. Sie sind auch katholischer Priester. Können Sie noch als Priester wirken?
Man muss die Rolle des Priesters neu verstehen lernen. Liturgie ist zwar sehr wichtig, doch ist das durchaus nicht die einzige Aufgabe eines Priesters. Ich mache Stellvertretungen für deutsche, spanische oder französische Sprachgruppen, feiere mit ihnen Messen. Es geht darum, einen neuen Zugang zu „Mission“ zu erschliessen, christliche Werte zu vermitteln und diese auch umzusetzen.

Können Sie als Christ in China frei praktizieren?
In China gibt es fünf akzeptierte Religionen: Buddhismus, Hinduismus, Islam. Das Christentum wird aufgeteilt in katholisch und protestantisch. Man darf praktizieren, wenn man einer dieser offiziell sanktionierten Religionsgemeinschaften angehört. Der Staat will einfach die Kontrolle haben.

Man hört, dass das Christentum stark wächst in China. Können Sie das bestätigen?
Eine konservative Schätzung geht von 70 Millionen Christen in China aus, es könnten aber auch 100 Millionen sein.

Warum dieser starke Zuspruch?
Viele Christen, selbst Bischöfe, waren während Jahrzehnten im Gefängnis. Erst kürzlich starb einer, der wegen seines Glaubens mehr als 50 Jahre eingesperrt war. Das sind also Märtyrer, die für ihre Überzeugung einstehen. Genau das wünschen sich viele: starke, unbestechliche Persönlichkeiten. Die Kulturrevolution 1966 bis 1976 war eine enorme Zerstörung von Kultur und Religion. Die Menschen sehnen sich jetzt nach einem verlässlichen Orienterungspunkten, auch im Glauben. Seit der liberalen Öffnung ab 1978 nimmt die Zahl der Christen rasant zu. Als Faustregel gilt, was mir Bischöfe bestätigen, dass sich die Zahl der Katholiken seit 1949 verdoppelt, die der Protestanten mindestens vervierfacht hat.

Christen gibt es seit dem 8. Jahrhundert in China. Sieht man sie nicht als ausländische Bedrohung an?
Die Überbringer der christlichen Botschaft waren akzeptiert, wenn sie, wie die Jesuiten ab dem 16. Jahrhundert, die lokale Sprache und Kultur respektierten resp. sprachen. Das ist den Chinesen ganz wichtig. Und sie haben Errungenschaften der westlichen Wissenschaft wie Mathematik, Geografie und Geometrie mitgebracht. Die Chinesen hatten durch die Jesuiten einen Mehrwert.

Werden Sie überwacht?
Ja, während 24 Stunden.

Wie muss man sich diese Überwachung vorstellen?
Davon merkt man vordergründig nichts, aber das ganze System ist darauf eingestellt. Ausländer, die Einfluss auf Chinesen nehmen könnten, sei es ein Professor oder ein Geschäftsmann, werden genau beobachtet. Wenn ich etwas «Krummes» drehen würde, würde das auffliegen. Das ist sicher. Die wissen immer, wo ich bin.

Was für einen Ruf hat die Schweiz bei den Chinesen?
Einen ausgezeichneten. Einerseits, weil die Schweiz China sehr früh diplomatisch anerkannt hat. Heuer werden die 65 Jahre diplomatischer Beziehungen ausgiebig und offiziell gefeiert. Die Schweizer Botschaft in Peking ist die grösste aller Länder. Einfache Leute wie Taxifahrer haben ein erstaunlich gutes und differenziertes Wissen über die Schweiz, ihre Politik, über ihre Landschaft. Zudem hilft, dass wir als kleines Land keine Bedrohung darstellen. Verbunden damit ist die Hoffnung, dass man in zehn, fünfzehn Jahren auch so weit ist wie die Schweiz. Unser Land ist für Chinesen das real existierende Paradies.

Was möchten die Chinesen von den Schweizern lernen?
Wichtig ist momentan vor allem die Produktesicherheit und sie bewundern uns für unsere Bildung: Unser kleines Land hat zwölf Nobelpreisträger hervorgebracht und China nur sehr wenige. Das wissen die Chinesen. Schliesslich ist ein Stück Dankbarkeit dabei: Die Schweiz hat früh chinesische Studenten zu Ausbildungszwecken in die Schweiz geholt und mit Stipendien gefördert. Und der Schweizer tritt im Gegensatz zum Deutschen oder Amerikaner bescheiden auf. Das mögen sie.

Vor zwei Jahren hat Bundesrat Schneider-Ammann ein Freihandelsabkommen mit China unterzeichnet. Bringt das etwas?
Auf jeden Fall. Es ist ein schwieriges Feld, aber in verschiedenen Bereichen wie im Detailhandel oder im Finanzsektor bringt das Abkommen grosse Vorteile. Die Grossbanken oder Firmen wie Nestlé oder Victorinox profitieren. Das ist wichtig vor dem EU-Hintergrund: Die Schweiz ist weniger isoliert, um nicht zu sagen weniger erpressbar, wenn sie einen solch potenten Handelspartner wie China im Beziehungsnetz hat. Asien bleibt der Wachstumsmarkt der Zukunft. Die Schweiz hat das schon früh gemerkt und ist gut aufgegleist.


Ein waschechter Märchler

LEBENSLAUF ste. Stephan Rothlin ist am 8. Dezember 1959 geboren, Bürger und aufgewachsen in Lachen. Er absolvierte die Gymnasien in Nuolen und Einsiedeln, studierte Theologie und Philosophie in Rom, München und Paris und doktorierte in Innsbruck.
Schon mit acht Jahren wusste er, dass er Priester werden will. Prägend sei für ihn jene Geschichte gewesen, in der Jesus auf dem See wandert, seinen Jüngern die Angst nimmt und den Sturm stillt. Zum Jesuiten berufen fühlte er sich nach dem Vortrag eines Benediktinerpaters im Kloster Einsiedeln, der die verschiedenen Orden vorstellte. Vor allem das mit dem Jesuitenorden verbundene Reisen und die Exerzitien hätten ihn angesprochen. Er sprach sich 1977 mit Joseph Bruhin aus, der ebenfalls aus Lachen stammt und damals Provinzial (Chef der Jesuiten) war.
Vom 24. Juli bis 17. August vertritt er Pfarrer Reto Müller. Der Schwyzer Pfarrer und Stephan Rothlin kennen sich von der gemeinsamen Zürcher Zeit in der Pfarrei Liebfrauen.
Stephan Rothlin wanderte 1998 nach China aus und ist seit 1999 Professor of International Business Ethics (Wirtschaftsethik) an der University of International Business and Economics in Peking und betreibt die Beratungsfirma Rothlin International Management Consulting Co. Ltd. mit Sitz in Hongkong und Peking. Darüber hinaus ist er als Autor und Co-Autor Verfasser von diversen Abhandlungen zum Thema Wirtschaftsethik und Umweltschutz.